Im Sommersemester 2021 und Wintersemester 2021/22 hatte ich das große Vergnügen, eine FOLL-Gruppe (Forschendes Lehren und Lernen) bei ihrem Projekt zu begleiten: Die Gruppe engagierter Studierender erarbeitete selbständig eine Simulation der deutschen Koalitionsverhandlungen nach den Bundestagswahlen 2021. Im Sommersemester recherchierten sie dazu die Parteiprogramme der Parteien, die wahrscheinlich Koalitionsverhandlungen eingehen würden und bildeten sich über Koalitionstheorien fort. Daraus entwickelten sie eine Simulation, die sie im Wintersemester zusammen mit meinem Mitarbeiter Jan Bartels für ihre Kommiliton*innen anboten. Wie in der echten Politik bildeten 32 Studierende thematische Arbeitsgruppen und versuchten sich auf inhaltliche Leitplanken für eine Ampelkoalition zu einigen. Die Simulation war ein voller Erfolg. Ich durfte auch mal ein wenig zuschauen und war begeistert.
Mittlerweile hatte ich auch Zeit, den Koalitionsvertrag der FOLL-Simulation (im folgenden: FOLL-Vertrag) mit dem echten Vertrag der Ampelkoalition (im folgenden: Ampel-Vertrag) zu vergleichen.

Hier sind einige Erkenntnisse aus diesem Vergleich:
Koalitionsverträge sind lang und komplex. Ob in der Simulation oder in der Wirklichkeit
Der Ampel-Vertrag hat 178 Seiten und über 50.000 Wörter. Damit reiht er sich in eine Tradition immer länger werdender Koalitionsverträge ein. Der FOLL-Vertrag ist aber für das Produkt einer studentischen Simulation enorm lang und komplex. Er hat 23 Seiten und knapp 7000 Wörter (und wurde an nur drei Tagen geschrieben). Der Ampel-Vertrag ist in vielen Bereichen sehr präzise und bezieht sich auf konkrete Gesetze, hier erkennt man die große Expertise der Verhandler*innen. Der studentische Vertrag ist mitunter weniger präzise, die Stoßrichtung der Vereinbarungen ist aber meist sehr ähnlich. Beispielsweise enthält der FOLL-Vertrag ein Bekenntnis
„Der sozial-ökologische Wandel soll in der Wirtschaft maßgeblich manifestiert werden. Hierzu soll eine umfassende Investitionsoffensive in Richtung Klimaneutralität sowohl in der Industrie als auch im öffentlichen Bereich gestartet werden.“
Diese Innovationsoffensive findet sich auch im Ampel-Vertrag, dort ist sie aber präziser ausbuchstabiert.
Die Studierenden haben Sprache von Koalitionsverträgen gut drauf.
Hier kommen zwei Zitate. Eines stammt aus dem FOLL-Vertrag, das andere aus dem Ampel-Vertrag:
Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind global und sind nur global zu lösen. Unser Fokus liegt dabei auf einer feministischen, friedensorientierten und menschenrechtsbasierten Klimaaußenpolitik in einer starken Zusammenarbeit mit unseren multilateralen Bündnissen und Organisationen. Die sozial-ökologische Transformation wollen wir dabei global vorantreiben, auch um gemeinsam die durch die Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise zu überwinden.
In den vergangenen Jahren haben wir in vielen Ländern eine Abkehr vom Multilateralismus erlebt. Internationale Zusammenarbeit muss daher neu vorangetrieben werden. Wir wissen um die globale Verantwortung, die Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt dafür trägt. Wir nehmen sie an und werden in unserer Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik Partnerschaften vertiefen, neu begründen und unsere Werte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten verteidigen. Dafür suchen wir die enge Zusammenarbeit mit unseren demokratischen Partnern.
Welcher der Absätze stammt von den Studierenden, welcher von den Ampelkoalitionären? Der erste kommt von den Studierenden, der zweite aus dem echten Koalitionsvertrag. Das ist aber nicht auf den ersten Blick zu erkennen.
Die Studierenden haben die Fachtermini der Politikfelder enorm gut verinnerlicht und in die Verhandlungen eingebracht
Jedes im Koalitionsvertrag behandelte Politikfeld hat seine eigenen Fachbegriffe. Dadurch, dass die Studierenden auf Basis der echten Parteiprogramme verhandelten, haben es auch diese Fachtermini in den FOLL-Vertrag geschafft. Darin zu finden sind Tariftreuegesetz, öffentliche Fonds für Wagniskapital, der Rechtsstaatschutzmechanismus der EU, konstruktiver Klimadialog, Indo-Pazifische Zusammenarbeit, eine Endverbleibskontrolle exportierter Waffen, Verschlüsselungssicherheit, der Deutschlandtakt und vieles mehr.
Koalitionsveträge sind eine Mischung aus vagen Wortwolken und präzisen Festlegungen. Ob in der Simulation oder in der Wirklichkeit
Die FOLL-Koalitionäre sind in einigen Punkten sehr vage geblieben.
„Wir möchten eine Kinderchancengrundsicherung einführen.“
„Die Fraktionen einigen sich darauf die Tourismuswirtschaft in Deutschland auf nachhaltige Weise zu stärken. Hierzu sollen ökologische Reisemöglichkeiten ausgebaut werden.“
Darin sind sie aber nicht viel anders als die echten Koalitionäre:
„Wir stärken die Start-up- und Gründerförderung. Wir werden Gründungen aus allen Lebenslagen und eine Kultur der zweiten Chance unterstützen und dafür ein neues Förderinstrument schaffen, das auch für Unternehmensnachfolgen offensteht“
„Wir arbeiten daran, die humanitären Katastrophen in Syrien und Jemen einzudämmen, und setzen unsere humanitäre Hilfe auf hohem Niveau fort.“
In vielen Bereichen ist der FOLL-Vertrag aber auch sehr präzise:
„Das Schienennetz soll bis 2030 zu 75 % elektrisiert sein, wünschenswert schneller.“
„Es soll ein soziales Grundrecht auf Wohnen geben. Es sollen jährlich 400.000 neue Wohnungen gebaut werden, davon sind 100.000 sozialer Wohnungsbau.“
– letzteres ist im echten Koalitionsvertrag auch zu finden.
In vielen Bereichen sind sich die Verträge sehr ähnlich
In vielen Bereichen sind der FOLL-Vertrag und der Ampel-Vertrag sich sehr ähnlich. Das ist auch nicht verwunderlich, sie wurden ja auf Basis der selben Parteiprogramme ausgehandelt.
Exportkontrolle von Überwachungstechnologie, Demokratieförderung, Tarifpolitik, Bekämpfung von Menschenhandel, Rechte des Europäischen Parlaments, Finanzierung von Wissenschaft und Forschung, Cannabis, Wahlalter, §219a…in vielen Bereichen wurden sehr ähnliche Lösungen gefunden.
Wohnen und Mieten ist den Studierenden sehr wichtig
Vielleicht nur wenig überraschend: Das Thema Mieten ist den Studierenden wichtig. Hier sieht es so aus, als habe sich die Gruppe, die die SPD darstellte, sehr gut durchgesetzt:
„Es wird eine Kommission gebildet, die die Wohnsituation regional (Wohnkosten) in Stufen bewertet. Das Stufenmodell beinhaltet folgende Kategorien: angespannte Wohnlage, semi-angespannte Wohnlage und nicht-angespannte Wohnlage. In der angespannten Wohnlage gilt ein befristetes Mietmoratorium, Mieten werden nur gemäß der Inflation gesteigert. In semi-angespannten Wohnlagen darf die Summe aus Mietsteigerung und der Vorjahresinflation 8 % pro Jahr nicht übersteigen. In den nicht-angespannten Wohnungslagen darf die Summe 10 % nicht übersteigen. Nachdem die Kommission einen Stufenwechsel beschlossen hat, wird dem/der Vermieter*in und dem/der Mieter*in eine einjährige Vorlaufzeit gewährt. Die Summe der Mietsteigerung und der Inflation darf in keiner Stufe über 10 % liegen. Es wird eine Gewerbemietpreisbremse eingeführt. Die Regelung der Mietpreisbremse gelten innerhalb des Mietspiegels, der auf den letzten 8 Jahren basiert (rechtssicher und (bundes)einheitlich). Die Modernisierungsumlage wird auf 2 Euro pro Quadratmeter begrenzt.“
Die Klima- und Umweltziele der Studierenden sind ambitionierter als die der Ampel
Die Studierenden wollen ein Tempolimit, ihre CO2-Preise sind ambitioniert, und viele Zeitpläne für die ökologische Transformation sind etwas zügiger und/oder verbindlicher. Der ÖPNV soll stark gefördert werden:
„Um dies zu fördern soll ein verkehrsverbundübergreifendes, deutschlandweites 365 € Nahverkehrsticket eingeführt werden, ein digitales Ticket wird angeboten.“
Bei der Frage der Finanzierung sind Studierende eher wortkarg (die Ampelkoalitionäre aber auch)
Der FOLL-Vertrag enthält relativ viele Versprechungen, Geld auszugeben. 3,5% des BIP für Forschung und Wissenschaft, 2% für die NATO, eine Investitionsoffensive Klimaneutralität, Investitionen in Verkehrsinfrastruktur, Glasfaserausbau, Digitalisierung der Schulen, sozialer Wohnungsbau. Da zugleich darin steht „Steuererhöhungen wird es keine geben“ ist ein wenig fraglich, wo das Geld herkommen soll. Aber da sind die Studierenden auch nicht so viel anders als die Ampelkoalitionäre.
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